Neblige Aussichten auf das Osterfest

Wenn uns Raumgefühl und Zeitempfinden verloren gehen, dann dreht der Lebenskompass sich um sich selbst. Als ob man in ein Magnetfeld geraten ist, werden Zeit und Raum in den Strudel gerissen wie in ein schwarzes Loch. So fühlt sich gerade irgendwie unser Leben an.... unbehaglich neblig.
Wenn sich mein innerer Navi andauernd neu suchen muss. Was ist wirklich wichtig - was echt egal. Was ist oben und was unten. Oder schlimmer noch rechts - Mitte und links - wann ganz jenseits von Gut und Böse! Was ist die echte Gefahr, was ist einfach nur Bauchgefühl oder Einbildung?

Im Strudel der Magnetfelder unserer Zeit ist unsere Kompassnadel hektisch geworden. Sehr viele sind verunsichert. So erlebe ich das durch wirklich alle Altersgruppen und Gehaltsklassen, ja auch ob Land oder Stadt ist nicht wichtig. Und das wirkt sich auf das Zusammenleben aus. Nichts erscheint voraussehbar und planbar. Nichts verlässlich. Alles ändert sich wie's Wetter - und wie eine immer dichtere Nebelbank verschwimmt unser Leben im Grau der Vorahnung und fehlenden Sicht auf das was kommt.

Dazu wird aber das Tempo unserer Tage immer höher. Der alltägliche Druck steigt. Es fühlt sich mehr und mehr an wie ein Blindflug, den wir alle mehr oder weniger allein fliegen müssen. Denn kaum einer kann es sich mehr leisten "auf Sicht" zu fahren. Keine Krankenschwester und kein Handwerker, keine berufstätige Mutter und kein alleinerziehender Vater. Sorgfalt und Treue - sie sind nicht länger lobenswerte Tugenden - sondern Hindernisse auf dem Weg zum schnellen Ergebnis. Wer bis zu Ende denkt ist zu langsam - wer treu bleibt ein Dummkopf. Als ob wir von unsichtbarer Hand wie ein Schafherde auseinander getrieben werden; aufgehetzt, verstört durch Wolfsgeheul in der Ferne. Flucht im Nebel - nur wohin?

Zurück auf Anfang: das Osterwochenprogramm beginnt. Das eigene Lebensprogramm neu starten. Die ganzen Störungen, Magnetfelder, die uns ablenken und ganz wirr machen ausschalten. Wir müssen das nicht selbst alles schaffen. Dafür gibt es die Gemeinschaft. Dafür gibt es ein gutes Trainingsprogramm. Es ist im Kirchenjahr seit 2000 Jahren angelegt. Der jedes Jahr gleiche Ablauf ist vertraut und garantiert immer gleich: erst zieht der König der Armen auf seinem Esel in der Hauptstadt ein (Palmsonntag), dann verabschiedet er sich schweren Herzens von seinen Freunden und bittet, dass sie ihn nicht vergessen (Gründonnerstag), und dieser König opfert sich und alle schauen ohnmächtig zu (Karfreitag) - bis am kalten Ostermorgen die weinenden Frauen ein leeres Grab finden und keiner ihnen glaubt, dass es mit der Geschichte der Liebe gegen alle Todesnachrichten weitergeht - bis heute.

Geboren um zu leben .... In Raum und Zeit und Ewigkeit. Dazu brechen wir am Sonntag auf. Schade, dass in diesem Jahr die Esel krank sind. Felix und Benjamin werden uns fehlen! Aber sie werden gepflegt in ihrem zuhause nahe der schönen Dorfkirche von Fredersdorf - dem Dorf mit Zukunft. Diese beiden wissen, wo sie zuhause sind und das Futter auf sie wartet. Den Weg finden sie ganz ohne Navi oder Kompass. Der laute Ruf ist unüberhörbar und uralt und hörbar durch jede Nebelwand:

                            "Hosianna -

                            Sieh doch: Dein König kommt zu dir!

                            Von Herzen freundlich ist er.

                            Er reitet auf einem Esel, einem jungen Esel..."

Wenn wir den Weg im Nebel nicht sehen, dann erreicht uns der Klang dieser Worte. Geboren um zu leben - für eine neue Welt.

Pfarrerin Dr. Dorothea Sitzler-Osing, Pfarrsprengel Lütte-Ragösen und Vorsitzende des Diakonischen Werkes im Landkreis Potsdam-Mittelmark. Der Beitrag erschien am 23. März 2024 in der MAZ unter Blickpunkt Kirche. Die Autorin freut sich über Ihre Rückmeldungen, die Sie gerne per E-Mail an sitzler-osing.dorothea@ekmb.de  senden können.

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